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Treue / Vom Wert der Abschottung auf dem Markt der Möglichkeiten
Für die meisten Menschen ist Treue heute zunächst vor allem das Verbot von sexuellen Seitensprüngen während einer als exklusiv verstandenen Zweierbeziehung. Unser Bedürfnis nach Treue hat jedoch eine Tiefendimension. Und sogar ein Blick in die Ökonomie lohnt: Was ist der Wert einer Abschottung vom Markt der Möglichkeiten – und worauf verzichte ich dabei?
Treue – was für eine schöne Tugend! Wie schade, dass die meisten Menschen darunter nur die sexuelle Treue innerhalb einer Zweierbeziehung verstehen. Die Treue eines Verbots: Du darfst nicht mit anderen! Dabei vergessen sie die Treue des Gebots: Du sollst mit mir!
Dies sind die zwei betrüblichsten Einengungen des Begriffs: Die erste ist, dass es nur um Sex geht. Du darfst reden, handeln, Geschäfte machen, verreisen oder Sport treiben mit anderen, vielleicht sogar bussi-bussi, tanzen, flirten – nur das eine darfst du nicht: Sex.
Die zweite – wahrscheinlich noch leidwirkendere – ist: Du darfst nicht mit anderen Freude haben oder gar Lust, egal wie freudlos und lustlos es zwischen uns inzwischen geworden ist. Wichtiger als dass du mich liebst ist mir, dass du keine anderen liebst. Der Zaun um unseren Garten ist wichtiger als das, was sich darin befindet. Mach ihn lieber noch einen Meter höher und mit Stacheldraht, auch wenn unterdessen die Pflanzen im Garten verkümmern.
Von der Liebesheirat zum Efafi-Modell
Dabei ist Treue, verstanden als Beständigkeit in unseren menschlichen Beziehungen, eine seit Jahrtausenden – oft zu recht – hoch geschätzte Tugend. In kriegerischen Zeiten war es vor allem die Loyalität, die Beständigkeit des Verbleibs in der kämpfenden Partei, mit der »wir« uns jeweils identifizierten – so wird die Treue in den Nibelungensagen gefeiert und in vielen anderen Mythen der patriarchalen Zeit. Bleib bei uns! Sei kein Überläufer! Ein Überlaufen zu den anderen wäre Verrat. Abtrünnige und Verräter wurden seit je hart bestraft, durch Missachtung, Verbannung oder Auslöschung (physische, oder aus den Geschichtsbüchern). Deserteure und Fraternisierer wurden mit dem Tod bestraft. Oft richtete sich die Grausamkeit gegenüber den Treulosen nicht nur auf die kämpfenden Männer, sondern ebenso auf die Frauen, die aus der Ehe »desertierten«.
Dass Untreue vor allem den sexuellen Seitensprung meint, ist erst ein Ergebnis des romantischen Zeitalters, in dem die Liebesheirat zum Modell wurde. Hieraus entwickelt sich auch das Ideal des Traum- und Lebenspartners und das des Seelenpartners der Esoteriker, und schließlich das Efafi-Modell (so nennt es der Paartherapeut Michael Mary): einer für alles für immer – der Partner als bester Freund, einziger Lover, Mitbewohner, Co-Elter für die eigenen oder zugewachsenen Kinder und Compagnon im eigenen Haushaltsbetrieb (in der Beziehung ohne Gütertrennung).
Konservativ versus progressiv
Ich schätze Beständigkeit. Auch wenn ich mich politisch nicht zu den Konservativen zähle, finde ich, dass es so viel zu bewahren gibt. Was gut ist, dass sollten wir bewahren – und es gibt sehr viel Gutes in der Welt. Andererseits gibt es auch Schlechtes, das sollten wir verändern, da bin ich dann »progressiv«, reformistisch oder gar revolutionär. Und da das Private das Politische zusammenhängen, sage ich das jetzt mal über das Private: Jede Beziehung, die ein Mensch bei passabel wachem Bewusstsein eingeht, hat etwas, das es wert ist, erhalten zu werden. Diesem zu Erhaltenden sollten wir treu bleiben. Und was nicht gut ist, dem sollten wir untreu sein, sollten es ändern oder verlassen. Und auch hier wieder ähnelt das Politische dem Privaten: Als die DDR von der BRD kassiert wurde, warum hat man da nicht das Bildungs- und Gesundheitssystem (nicht ganz so, aber doch in sehr vielem) übernommen? Weg mit der Stasi, der Diktatur der SED, der Idiotie dieses verkrusteten Pseudo-Sozialismus, aber mit dem Guten an der DDR hätte man nicht »Schluss machen« müssen, so wie man heutzutage oft mit einem Partner Schluss macht, der das Efafi-Ideal nicht erfüllt.
Sei flexibel!
Unsere Wirtschaft schätzt die Flexibilität. Vor allem die Arbeitnehmer sollen flexibel sein und mit immer neuen Marktbedingungen umgehen können, so wie die Produzenten mit immer neuen Situationen auf den sich ständig bewegenden Märkten. Die Arbeitnehmer sollen bereit sein zur Untreue gegenüber ihrer Heimat, ihrer Muttersprache, dem erlernten Beruf, ihrer Lebens(abschnitts)partnerschaft und Familie, wenn es woanders einen besseren Job gibt, sodass die Gestalter unserer politisch-wirtschaftlichen Ordnung nicht flexibel sein müssen, sondern dem System treu bleiben dürfen. Wer darf hier beim Alten bleiben, wer muss sich ändern? Das Verhältnis der beiden Seiten ist ungleich. Damit die Global Players und Inhaber größer Vermögen dem wirtschaftlichen System, das ihnen nützt, treu sein können, müssen die Arbeitnehmer flexibel sein. Das Ergebnis ist die Verarmung großer Anteile der Bevölkerung, Millionen von Migranten, die geduldete Skrupellosigkeit ihrer Schlepper (über das Mittelmeer und über die mexikanisch-amerikanische Grenze), die Heimatlosigkeit der im Exil Arbeitenden, die Fremdenfeindlichkeit bei den dort Ansässigen gegenüber den Zugewanderten.
Die in der der Eso-Szene so beliebte Devise »lerne loszulassen« passt insofern sehr gut zu unserem Wirtschaftssystem, das gewachsene Bindungen missachtet, wie Karl Marx das schon in seinem kommunistischen Manifest so eindrucksvoll beschrieben hat: »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen, und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose 'baare Zahlung'. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.«
Freiheit
Und auch der Aufbruch der spirituell Bewegten, der aus ihren alten Heimaten Aufbrechenden passt hierzu: Binde dich an nichts, sei frei! Frei für den Markt? Der wirklich Aufbrechende, Freie (indisch: mukti) lässt sich von der Konsumgesellschaft nicht verführen, er ist durch Geld, Macht und Ruhm nicht zu bestechen – aber wer ist das schon? So führt das naive Verständnis des spirituellen Aufbruchs in die grenzenlose Freiheit ebenso wie die esoterische Devise des »Lerne loszulassen« zu einer Befreiung, die Menschen in gewachsenen Bindungen dem globalen Markt zur Verfügung stellt. Sie sind nun dazu verdammt teilzunehmen an einem grenzüberschreitenden Rattenrennen, das an einem Ende sehr wenige sehr reich werden lässt, am anderen aber die Mehrheit zu Verlierern macht, mit einem systembedingt immer schmächtiger werdenden Mittelstand.
Markentreue
Wem bin ich treu? Vielleicht passt es diesem Wirtschaftssystem auch recht gut, wenn wir das Thema Heimat vergessen und Treue vor allem als sexuelle Treue in der Zweierbeziehung verstanden wird, allenfalls noch als Treue eines Konsumenten zu seiner bevorzugten Marke. Viele Menschen sind heutzutage ihrer Auto-, Kleidungs- oder Computermarke treuer als ihrem jeweiligen Lebensabschnittsgefährten – an irgendwas muss man sich ja festhalten. Von Windows Vista zu Mac OS 10 zu wechseln ist um einiges aufwändiger als das Schlussmachen mit einem Lebensabschnittsgefährten – so viele der alten Programme passen da nicht mehr, vom Zugang zu den gesammelten Daten der letzten zehn Jahre auf meiner Festplatte mal ganz zu schweigen. Da bleib ich dann doch lieber in der Windowswelt – oder entsprechend bei Mac.
Polarität
Wie so oft, hilft es auch hier nicht weiter, sich auf die eine Seite dieser Polarität zu schlagen und zu versuchen, etwa nur flexibel sein zu wollen, aber nicht treu, oder nur treu und beständig, aber ohne Bereitschaft zur Veränderung. Der harte Kern der Flexibilitätsverfechter unserer Wirtschaftsordnung preist die Arbeitnehmer- und Produktflexibilität ohne Abstriche, hält aber dafür daran fest, dass Banken von Regierungen gerettet werden müssen, Firmen sich ihren Sitz in Steueroasen suchen dürfen, Finanztransaktionen unbesteuert bleiben, die Weltmeere ausgebeutet werden dürfen, und so weiter, an irgendwas muss man sich ja festhalten.
Andererseits halten sich diejenigen, die »progressiv« sind und einen schnellen Wandel des Systems wollen, oft an Denkweisen fest, die dann zu Ideologien erstarren. Je stürmischer die Veränderungen im Diesseits, umso fester der Glaube an meine historisch-kritische Dialektik oder an ein Jenseits – an Religionen und apokalyptische Szenarien. Freies, flexibles Denken über andere und über »das System« gedeiht am besten in Systemen sozialer, politischer Sicherheit. Es sei denn, dieses freie Denken ist auch ein Denken über sich selbst und das eigene Leben mit der impliziten Forderung, dann konsequent auch sich selbst verändern zu müssen, dann halten wir eisern fest. Vor allem in vier Bereichen: Ernährung, Beziehung, Religion und Geldordnung.
Ernährung, Beziehung, Religion
Enorm, wie sehr Menschen der Art der Ernährung ihrer Kindheit treu bleiben. So wie bei uns zuhause gekocht und gegessen wurde, so lieben wir es ein Leben lang. Oder hassen es ein Leben lang – auch die Anti-Bindung ist eine Bindung. So wie wir als Kinder und Jugendliche die übliche Beziehungsform erlebt haben, so halten wir es unser Leben lang für richtig (oder falsch). An den in der Kindheit geprägten Formen halten wir fest wie an einer Sucht (oder umgekehrt, an der Scheu vor einer Sucht; dann mit Gefahr zum Kippen). Selbst harsche medizinische Kontraindikationen können einen Menschen kaum vom Nudelessen, Fleischessen, hohem Zuckerkonsum oder Rauchen abbringen. Ebenso die Beziehungssüchtigen und Beziehungsphobiker, das sitzt tief. »Das ist bei uns eben so, das gehört sich so, so macht man das bei uns«. Nur selten sind wir diesen Überzeugungen und Verhaltensweisen willentlich treu, dennoch haften sie an uns und wir an ihnen.
Auch in den Bereichen der Religion und der Geldordnung geht diese Anhaftung tief und hat Suchtcharakter. Menschen, die nicht mehr in die Kirche gehen, nicht mehr an Gott glauben und im Finanziellen höchst geizig sind, bei der Kirchenzugehörigkeit setzt dies alles aus, da bleiben sie unbeweglich. Treu. Manchmal mit einem leichten Gefühl der Beschämung über diese Art der Treue. Vielleicht sind die Menschen außerhalb der Kirchen im Durchschnitt sogar religiöser als die innerhalb, aber die drinnen halten fest. Eisern. Es könnte ja was passieren, wenn ich nicht mehr dazu gehöre. Vielleicht gibt es wider alle Raison Gott und den Teufel doch? Wer weiß. Besser ich bleibe drin.
Glaubensüberzeugungen
Und auch das Festhalten am Geldsystem geht tief. Es hat irrationale, religionsähnliche Züge und ist dem Verhalten eines Süchtigen vergleichbar, der von seinem Stoff nicht los kommt. Wer in unserem System BWL oder VWL studiert hat, denkt den Rest seines Lebens wie der Zögling einer Kaderschmiede, so wie die einst in den Kaderschmieden der den kommunistischen Länder Geschulten. Abtrünnige werden bekämpft und verfemt, in den glücklicheren Fällen nur ignoriert. Man kann eben nicht raus aus seiner Haut. Oder wie Thomas Kuhn es von den Revolutionen in der Wissenschaft sagt: Die alten Weltbilder verschwinden erst, wenn ihre Vertreter aussterben. Wissenschaftler und Wirtschaftler sind eben auch nur Menschen, sie halten an den Glaubensüberzeugungen fest, mit denen sie groß geworden sind.
So konnte »das Wunder von Wörgl« sich nicht ausbreiten, und auch heute noch haben die freiwirtschaftlichen Modelle nach Silvio Gesell kaum eine Chance. Auch der Sozialismus, der siebzig Jahre lang weltweit so viel bewegte (auch unendlich viel Schreckliches), wird mit dem Ende von Nordkorea und Cuba tot sein. Es sei denn, aus dem jetzt herrschenden kapitalistischen System heraus wächst eine Generation heran, die das nicht mehr glaubt, was die Alten sagen. Die bereit ist zum Aufstand, zur Untreue. In diesem Falle hoffentlich ein Aufstand gegen den Kapitalismus, der auch dem alten sozialistischen Denken untreu ist.
Fremdgehen
Jetzt noch einmal zurück zur Zweierbeziehung, wo die Worte »Treue« und »Untreue« am häufigsten verwendet werden. Der Konflikt zwischen Festhalten und Loslassen, Beständigkeit und Flexibilität wühlt uns hier anscheinend noch mehr auf als im Politischen und in Bezug zur Warenwelt. Wenn mein Partner sich in eine andere verliebt beziehungsweise meine Freundin fremdgeht, tut mir das anscheinend noch mehr weh, als wenn sie oder er eine andere Partei wählt, aus der Kirche austritt, den Euro abschaffen will oder plötzlich anfängt, sich vegan zu ernähren. Warum das? Weil unsere Beziehungen noch tiefer gehende Beheimatungen sind als die Währung, die politische oder religiöse Partei und die Ernährungsweise. Und weil wir dort, als Tiere, die wir sind, Konkurrenz befürchten: Wird sie sich von einem anderen befruchten lassen? Wird er dann aufhören, mich beim Großziehen unserer Kinder zu unterstützen? Deshalb ist die Angst vor der Untreue in der Zweierbeziehung so groß (bei Männern signifikant prioritär vor ihrer emotionalen Untreue, bei Frauen vor ihrer sexuellen Untreue).
Neue Modelle
Würden wir uns diesen Ängsten stellen, könnten wir Lösungen finden. Aber wir stellen uns ihnen nicht. Doch, ein paar wenige Pioniere stellen sich ihr, ein paar mutige Avantgardisten, Vorreiter der Beziehungsmodelle von morgen, aber sie haben es schwer, weil die Mehrheiten anders denken, anders verängstigt sind und entsprechend anders ängstigen. Würden wir uns stellen, dann würden wir erfahren, dass Männer, die sich neu verlieben in eine andere Frau als die Mutter ihrer Kinder dennoch der Sorge um ihre Kinder treu bleiben und oft auch ihrer alten Liebe, auch der körperlichen. Die Mutter aber hat Angst, nun ungünstig verglichen zu werden: Was hat sie denn, das ich nicht habe? Und wehrt diese Angst ab und flüchtet sich ins Moralische: Das darfst du nicht, das tut man nicht. Worauf der Mann zu heucheln beginnt, sich zügelt, an Lebenslust und Elan verliert, oder heimlich fremdgeht, mit all dem Stress der Heimlichkeit, der Energien bindet, und damit die alte Beziehung belastet.
Ähnlich ist es auch für ihn, wenn sie sich verliebt und entweder dem nachgibt oder ihe Wünsche unterdrückt. Weil der Mann nicht den Mut hat, sich der Tatsache zu stellen, dass auch andere Männer für seine Frau, seine Geliebte, die Mutter seiner Kinder attraktiv sein könnten. In einigen Kulturen haben die Männer einst sogar die genitale Beschneidung der Frauen durchgesetzt, so groß war diese Angst, und müssen nun mit Frauen leben, die keine Lust am Sex haben. Der Kult um diese grausame Praxis ist so tief ins Unterbewusste gesunken, dass nun auch die Frauen (oft mehrheitlich) für ihre Fortsetzung eintreten, so sehr sind sie abgeschnitten von ihren wirklichen Bedürfnissen, ihren Wünschen, ihrer Lust.
Der Beziehungsmarkt
Nur für den Zweck einer Erkenntnis: Schauen wir uns diese Situation einmal marktwirtschaftlich an. Die exklusive Zweierbeziehung ist die Verabredung von zwei Menschen zur Abschottung von dem Markt, dem großen Markt der Möglichkeiten – es könnte ja noch einen anderen Menschen geben, der für meine Lust, meine Wünsche und Bedürfnisse ein besserer Garant auf Erfüllung ist. Versprich mir, dass du dich abschottest, dann schotte auch ich mich ab! Der Vorteil bei diesem Deal, wenn er denn glückt: Die beiden ersparen sich die Beschäftigung mit den Angeboten anderer, deren Beurteilung ja auch immer anstrengend und herausfordernd ist, und sie sparen sich den erneuten Aufwand der Anbahnung einer Beziehung, die ja oft erst mit der Zeit wirklich gut wird. Der Nachteil: Es könnte der Verzicht auf was Besseres sein. Jedenfalls stirbt bei diesem Deal in der Regel die Hoffnung, dass »noch alles möglich ist«, der Flirt mit dem Unbekannten, die Erotik des Gefühls sich als freier Mensch in einem Markt der unbegrenzten Möglichkeiten zu bewegen.
Der Wert der Abschottung
Ist es gut, einen Markt abzuschotten, um die einheimischen Industrien zu schützen? Wie wirkt es sich auf die Produktqualität aus, wenn ein regionaler Markt durch Zölle oder Gesetze künstlich vom Weltmarkt abgeschnitten ist? Haben wir dann Trabbis statt Mercedes und BMW? Wie geht es den Arbeitnehmern dabei? Wir brauchen doch keine Weltklasseautos, jedenfalls nicht unter diesen Opfern … und so weiter. Ich finde diesen Vergleich reizvoll, aber auch nur das. Menschen sind keine Autos, der Vergleich mit der Wirtschaft / dem Markt ist bloß ein Vergleich. Die Ruhe, in der sich eine verbindliche Beziehung unter stabilen Bedingungen entfalten kann, schätze ich sehr hoch ein. Dennoch: Auch Herausforderungen können einen stärken. Möglicherweise gilt das, was wir aus dieser Überlegung für unsere Beziehungen schließen, in mancher Hinsicht auch für die zu unseren Waren: Es hat was für sich, wenn die Beziehung zu einem Produkt sich in Ruhe entfalten kann. Dass die zweijährliche (vielleicht bald jährliche) Erneuerung des Handys jetzt im Rahmen einer monatlichen Flat angeboten wird, beunruhigt mich schon etwas. Nicht nur wegen der Ökobilanz, sondern auch, weil das Handy ein Gegenstand ist, den man täglich benutzt und dabei auch lieb gewinnt.
Nachhaltigkeit
Wäre ich ein Vermarkter, der mit der Zeit gehen möchte, so würde ich mein Beziehungskonzept jetzt das der »nachhaltigen Beziehung« nennen. Nicht gleich auf den Müll damit, wenn etwas mit dem Objekt meiner Begierde nicht stimmt, sondern sich etwas anschaffen, das lange hält – das eben nachhaltig ist. Und was ist mit dem Zweitauto, dem Zweithandy oder Zweitcomputer? Die meisten Menschen haben ja auch mehr als ein paar Schuhe. Es ist ja nicht jedes Schuhwerk für alle Wetter gut, und die alten, ausgelatschten … aber ich wollte doch nicht wieder beim Thema Beziehung landen. Nein, ich bleibe meinen alten Tretern treu. Sie sind eingelaufen, sie haben sich meinem Füßen angepasst und ich mich an sie, ich mag sie einfach. Erst wenn sie ganz auseinanderfallen, brauche ich neue. Schuster, die sie reparieren, die gibt es ja heute nicht mehr, das lohnt sich nicht, neue Schuhe sind viel zu billig.
Treue ohne Abschottung
Aber das möchte ich doch noch erwähnen: die Lösung, die die Vertreter der Polyamorie anbieten, die ist nämlich gar nicht so dumm. Sie versuchen die Offenheit mit der Verbindlichkeit zu vereinbaren. Verbindlichkeit insofern, als der Wert einer gewachsenen Beziehung bei ihnen sehr hoch angesetzt wird als etwas, das man nicht mal so eben schnell entsorgt, wenn die Möglichkeit von was Besserem einem zuwinkt. Dabei aber gehen sie mit der Abschottung anders um: Beziehung bedeutet für sie keine so strenge Abschottung. Wenn eine Frau oder ein Mann in einer festen Beziehung sich neu verliebt, gilt das nicht als pfui (wie im vorromantischen, stark moralisierenden Beziehungsmodell) und auch nicht als Ende der bestehenden Beziehung (wie im aktuellen Modell der seriellen Monopartnerschaften), sondern die alte Beziehung wird erhalten und der neuen eine Chance gegeben.
Mitfreude
Im Idealfall freut sich der feste Partner in einer polyamoren Beziehung, dass seine Liebste oder sein Liebster sich frisch verliebt hat und freut sich mit ihr oder mit ihm über dieses schöne Ereignis – Mitgefühl als Mitfreude, nicht nur als Mitleid. Ja, das gibt's! Ist selten, kommt aber vor: bei stark Liebenden, die ohne Scheu und ohne Selbstwertverlust der Tatsache ins Auge schauen können, dass es für meinen Partner außer mir auch noch andere gibt auf dem Markt der Möglichkeiten. Die Wahrscheinlichkeit ist ja hoch, dass diese frische Verliebtheit nur von kurzer Dauer ist, dass mein Partner auch in der Zeit den Kontakt zu mir wird halten wollen und dass nach der euphorischen Phase dieser neuen Verliebtheit ich wieder der wichtigste Mensch in seinem/ihrem Leben bin. Oder dass mein Partner auf diese Weise einen Menschen findet, der etwas hat, was ich nicht bieten konnte, und dass sich so etwas ergänzt, was auch mir zugute kommt: Mein Partner ist nun glücklicher und versucht nicht dauernd etwas von mir zu bekommen, was ich nicht habe oder nicht bieten will.
Polyamorie
Ich halte dies für einen sehr intelligenten Umgang mit unserem Bedürfnis nach Beständigkeit und Abwechslung, Sicherheit und Abenteuer, Bewahren und Erneuern. Denn wir alle haben diese beiden Seiten in uns, auch wenn viele von uns nur eine dieser beiden Seiten expressiv ausleben, die andere vernachlässigen, verstecken oder verdrängen sie. Ich weiß aber auch, wie sehr diejenigen, die den Mut haben, diese Art von Beziehung zu leben, damit anecken. »Polyamorie ist sicherlich die beste Art der Beziehung, aber sie verlangt viel von einem – und der Widerstand der Umgebung war schließlich so stark, dass ich es aufgegeben habe«. Aufgegeben so zu leben oder ohne Heimlichkeit so zu leben, beides höre ich des öfteren. Und auch das: »In zehn oder zwanzig Jahren wird das anders sein. Unsere Kinder werden es leichter haben.«
Einer starken Liebe zu folgen war in der Zeit bis zur Romantik und auch noch danach ein Wagnis, in vielen Fällen ein Skandal. An starken Widerständen der Umgebung scheiteren die beiden Verliebten, so wie Romeo und Julia in Shakespeares Drama. Gegenwärtig wird Indien vom Ideal der romantischen Liebesbeziehung erfasst, in der Oberschicht und im städtischen Mittelstand schon länger, per Bollywood allmählich auch im ganzen Land. Nicht mehr die Eltern sollen den Lebenspartner für dich bestimmen, sondern du selbst: Folge deinem Herzen!
Auch das Modell der Aneinanderreihung von Beziehungen, das die Celebrities der westlichen Welt uns vorgelebt haben und noch vorleben (sie haben auf dem Markt der Möglichkeiten den höchsten Wert, entsprechend schnell wird gewechselt), wird irgendwann durch ein anderes abgelöst – durch eine andere Art, mit Treue umzugehen. Was bleiben wird ist die Sehnsucht nach Beständigkeit, Kontinuität, Verlässlichkeit, Sicherheit, Treue. Aber auch die nach Abenteuer.
Die 'polyspirituelle Treue'
Wer spirituell unterwegs ist, hat noch auf einem anderen Terrain das Bedürfnis, die Balance zwischen Standbein und Spielbein auszutarieren. Hier geht es um die Treue zur ausgeübten spirituellen Praxis, manchmal auch die zu einem spirituellen Lehrer und zu einer spirituellen Gemeinschaft. Auch hier wieder würde ein moderner Vermarkter nun »Nachhaltigkeit auf dem spirituellen Weg« fordern. Also kein Guru Hopping und kein Method Hopping, sondern schön dabei bleiben, treu und diszipliniert. Was aber, wenn doch Qi Gong besser wäre für mich als Yoga, obwohl ich schon seit fünf Jahren Yoga übe? Wo mir doch jetzt der Rücken so wehtut! Zeit für einen Wechsel der Methode? Oder soll ich mich lieber abschotten von solchen Angeboten, um leichter meinem Guru und meiner Methode treu bleiben zu können? Oder ist vielleicht auch hier der polyamore (vielliebende) Ansatz der intelligenteste – das Alte nicht aufgeben, während man das Neue zulässt? Die verschiedenen Charaktere werden auch mit dieser Situation sehr unterschiedlich umgehen. Also erst ein Charaktertest? Und neben dem Heilpraktiker für Psychotherapie auch noch den für Treueberatung abschließen?
Vielleicht können wir wenigstens das so stehen lassen: Das Leben braucht Erneuerung und Beständigkeit, beides. Kinder brauchen die Treue und Verlässlichkeit ihrer Eltern, aber auch viel, viel Abwechslung. Uns großen Kindern geht es da nicht viel anders. Wir wollen die Welt erforschen, Abenteuer erleben, aber das, was gut ist, das soll so bleiben wie es ist.
Wolf Schneider, Jg. 1952, Studium der Lebenskunst seitdem. Hrsg. der Zeitschrift connection seit 1985. 2005 Gründung der »Schule der Kommunikation«. Kontakt: schneider@connection.de, Blog: www.schreibkunst.com.

 




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Wolf Schneider

Wolf Schneider, Jahrgang 1952, studierte Naturwissenschaften und Philosophie in München. Schon während seines Studiums begab er sich auf Reisen. Die nächsten Jahre verbrachte er in Europa und Südasien, wo er ab 1976 als buddhistischer Mönch in Thailand lebte und von 1977-1990 Schüler von Osho war. Zurück in München gründete er 1985 die Zeitschrift connection, die noch heute als connection Spirit mit der Sonderheftreihe connection Special erscheint. Seinen 2005 gegründeten Verlag mit integrierter "Schule der Kommunikation" wandelte er Anfang 2008 erfolgreich in eine AG um. Im Connectionhaus veranstaltet er Jahrestrainings unter dem Motto: "Kreativität, Kommunikation und Inszenierung". Mit seiner offenen, ehrlichen und humorvollen Art zu kommunizieren, schenkte er uns ein wunderbares Theaterstück (Zauberkraft der Sprache) und zahlreiche Bücher, die uns Leser in eine spannende Welt der Spiritualität entführen. Sein neuestes Buch: "Das kleine Lexikon esoterischer Irrtümer" erscheint im August 2008 im Gütersloher Verlagshaus.



Zusätzliche Informationen:
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